Max Küng – Zürich auf der Couch
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Wenn Zürich eines Tages beschlösse, zu einem Psychiater zu gehen, dann natürlich nicht, weil sie müsste. Denn Zürich muss nicht. Zürich will! Zürich hätte den Termin nicht vereinbart, weil sie einen Leidensdruck verspürte, ein akutes Problem sie plagte – sondern um sich zu optimieren. Der Grund wäre keine Krise, sondern die Möglichkeit eines Upgrades.
Sie würde sich beim Psychiater (dem besten weit und breit) auf die Ledercouch setzen, mit geradem Rücken und einem ebensolchen Lächeln im Gesicht. Dieses typische Zürich-Lächeln – professionell, charmant, aber nicht zu privat oder gar einladend. Der Psychiater würde sie bitten, sich hinzulegen. Das wäre ihr ganz recht, denn so müsste man sich während des Gesprächs nicht in die Augen blicken. Um sich zu öffnen, wäre es besser, an die Zimmerdecke zu starren, denn durch fremde Augen in einen anderen Menschen hineinzusehen. Und sie müsste auch nicht das Gesicht des Psychiaters ansehen, der scheinbar keinen Nasenhaarschneider besass und einen Vollbart trug, in dem – weiss Gott – wie viele Milben hausen mochten.
Wenn der Psychiater sagen würde, sie dürfe ruhig die Schuhe ausziehen, es sich bequem machen, würde sie lächelnd den Kopf schütteln. «Schon okay», würde sie sagen, es sich nicht zu bequem machen und zu erzählen beginnen: Sie sei eine, die perfektionistisch sei und immer das Optimum herausholen wolle. Schon früher sei dies so gewesen, in der Schule oder während des Wirtschaftsstudiums. Sie habe immer die Beste sein wollen. Und sie habe sich nun gefragt, ob sie vielleicht zu perfekt sei.
Der Psychiater würde nicken, sich Notizen machen, vielleicht fragen, wie sich das äussere. Und Zürich würde erklären, sie sei eben immer im Modus. Sie tue, was sie am besten könne: effizient funktionieren und dabei blendend aussehen.
Der Psychiater würde fragen, was sie in der Freizeit tue, und sie würde sagen, sie trainiere für einen Long-Distance-Triathlon. Er würde fragen, ob sie auch mal so richtig entspanne. Sie würde sagen: Ja, das täte sie, es würde sie unglaublich befriedigen, mit einer Bürste die Kieselsteinchen aus den Sohlen ihrer On-Laufschuhe zu holen. Wenn die Sohle wieder wie neu aussehe, wäre das Gefühl fast so wunderbar, wie sich nach dem DH-Termin mit der Zunge über die frisch polierten Zähne zu fahren.
Aber sie frage sich, ob sie dabei effizient genug sei. Deshalb sei sie ja auch hier. Der Psychiater solle ihr helfen, eine noch bessere Version ihrer selbst zu werden.
Der Psychiater würde sie fragen, was sie stresse. Sie würde sagen, dass sie an Feiertagen innerlich unruhig werde, weil die Läden geschlossen seien. Dass sie sich unwohl fühle, wenn jemand mit einer Gitarre ins Tram steige und einfach so Musik mache – sehr wahrscheinlich gar ohne Bewilligung.
Der Psychiater würde erneut nicken. Ein Schweigen wäre zu hören – was sie nicht aushielte. Sie bezahlte schliesslich nicht fürs Schweigen. Und schon wäre sie beim Thema – und würde vielleicht gestehen, dass sie ein Problem mit Geld habe. Aber nicht das Problem, dass sie zu wenig habe, sondern zu viel davon. Dass sie sich manchmal wünsche, zugänglicher zu sein, ein bisschen mehr wie Bern vielleicht – aber ohne diese Langsamkeit. Oder humorvoller, so wie Basel – aber ohne deren Hang, sich aus Gründen des Geizes wie eine Vogelscheuche zu kleiden.
«Und sonst?», würde der Psychiater fragen. Zürich würde vielleicht sagen, sie wolle lernen loszulassen. Nicht komplett natürlich – nur so weit, dass sie subito wieder alles unter Kontrolle hätte. Sie würde gern einmal etwas Ungeplantes tun. Zum Beispiel einfach durch die Langstrasse spazieren, vielleicht sogar ohne Schrittzähler. Oder jemanden grüssen, den sie nicht kenne – ihm eventuell gar ein Lächeln schenken.
Der Psychiater würde sie fragen, ob sie auch jemand Fremdes mit sich nach Hause nehmen würde, auf eine Tasse Kaffee beispielsweise. Sie würde die Augenbrauen anheben und sagen: «Das dann doch nicht!»
Der Psychiater würde sie ermutigen, anfangs kleine Schritte zu machen. Mal ein Tram verpassen. Den Müllsack einen Tag zu spät rausstellen – oder das gebündelte Altpapier bereits am Vorabend. Morgens mal die Smartwatch neben dem Bett liegen lassen. Mal ohne Knirschschiene zwischen den Zähnen schlafen. Zürich würde sich das alles notieren, in sauberer Schrift und mit einem kleinen Smiley daneben – als Zeichen von Selbstironie.
Wenn sie die Praxis verliesse, würde sie kurz zögern. Draussen würde es nieseln, natürlich. Sie würde den Schirm öffnen wollen, es dann aber lassen. Der Regen würde auf ihren Mantel fallen, die Tropfen wie Perlen. Vielleicht würde sie lächeln, weil das irgendwie noch gut aussähe; wie ein vergänglicher Schmuck.
Und wenn man sie später darauf ansprechen würde, wie es ihr gehe, würde sie lächelnd sagen, es gehe ihr super gut. Sie gehe nun gar zu einem Shrink. Sie würde nicht Psychiater sagen, denn dieses Wort klänge nach echten Problemen mit Wurzeln in der Vergangenheit. Shrink klänge vorwärtsgewandt und mehr nach Spa und Wellness-Treatment. Sie würde nicht ohne Stolz sagen, sie arbeite an sich. Sie versuche, in Zukunft nicht immer alles perfekt zu machen. Dies aber auf perfekte Art und Weise!